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Hans Georg Gadamer

Hans Georg Gadamer

Kurzfassung eines Interviews von

Sigrid Beckmann-Lamb.


Gespräch mit dem Philosophen Hans Georg Gadamer vom 02.08.2001






SBL: Wie fühlt man sich als ein Jahrhundertmensch, wenn man auf über 100 Jahre Leben zurückblicken kann? Hat man Abstand zu allen Geschehnissen oder gelangen die Ereignisse noch ans Herz, gehen sie noch unter die Haut?


G: Ich habe nicht geahnt, wie schwer es ist, älter zu werden. Sowohl körperlich als auch geistig, und dass mein Gedächtnis nicht ausreicht... Mir ist es schon sehr bewusst, wie eingeschränkt meine Bewegungsmöglichkeit ist...


SBL: Was würden Sie jungen Menschen raten, was sollten sie an allererste Stelle stellen?

G.: Solche Fragen treten häufig an mich heran. Ich empfehle eine deutsche Übersetzung der platonischen Gespräche. Die kann man in der Schleiermacherschen Übersetzung wirklich lesen und verstehen.


SBL: Was würden Sie generell jungen Menschen, nicht nur Philosophiestudenten empfehlen - worauf sollten sie größten Wert legen?


G.: Ich würde natürlich immer glauben - das ist ja meine Pointe innerhalb der Entwicklung des Faches der Philosophie - dass ich sage, Ihr habt immer vom Sein und Heidegger usw. gesprochen“, während ich verlange: Das Gespräch ist das Wesentliche. Wir haben immer zu JEMANDEM zu sprechen. Niemand spricht, der nicht zu JEMANDEM spricht. Dies kann ich aus meiner Erfahrung sagen, es ist wichtig, dass der andere sich ins Gespräch verwickelt fühlt. Ich besuchte Heidegger wenige Tage vor seinem Tod. Nach dem Essen gingen wir in sein Zimmer. Er sagte: Also, Sie sagen, Sprache ist nur im Gespräch?“ Ja", erwiderte ich. „Ja, ja.“ meinte er. Damit war unser Gespräch beendet.


SBL: Sie haben einen großen Überblick über die Geschichte der letzten drei - bis fünftausend Jahre. In welcher EPOCHE befinden wir uns, historisch gesehen, jetzt? Wie werden kommende Geschlechter, vielleicht in 100 bis 1000 Jahren unser 20. Jahrhundert bezeichnen?


G.: Die Antwort, die ich geben muss, ist leider nicht sehr ermunternd. Ich sehe tatsächlich kaum noch einen Weg zu erreichen, dass die Menschheit ihre Fortschritte in der Produktion von Zerstörungswaffen unbenutzt lässt. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr groß, dass die Menschheit im 3. Jahrtausend nicht mehr existieren wird.


SBL: Es gibt ernstzunehmende Forschungen zu diesem Thema, die besagen, dass uns allenfalls noch drei Generationen bleiben, bis wir uns selbst zerstört haben werden. Denn wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir zum ersten Mal unsere gesamten Lebensgrundlagen zerstören können - Wasser, Erde, Luft. Der Planet wird überleben, die Lebewesen darauf kaum.


G.: Das ist sehr, sehr möglich. Es gibt nur ein einziges Gegenargument: Das ist die Angst, dass die Erde unbewohnbar wird, dass die Lebensgrundlagen allen Lebens auf der Erde, von Pflanzen, Tieren und Menschen, vernichtet werden. In der Angst davor liegt die Hoffnung, dass dies vermieden werden kann. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass eines Tages irgendein Hassan oder Hussein, irgendein Narr mit Gift oder ähnlichem diese Angst im kleinen Rahmen auslöst, und dass damit die Kontrolle zur Umkehr aus Angst in Gang gesetzt wird.


SBL: Wir müssen diese Gefahr der Masse bewusst machen. Darin besteht m.E. die einzige Chance.


G.: Diese Hoffnung habe ich auch. Wir sind allerdings nicht in der Lage, rückwärts zu leben. Wir müssen vorwärts gehen. Durch die Fortschritte z.B. im Hinblick auf die Säuglingssterblichkeit ist zwar einiges gewonnen, aber damit ist der Segen für die Menschheit nicht gesichert. Wir sehen zwar, wie sich langsam etwas Neues bildet. Doch im Augenblick haben wir noch das fürchterlich technische amerikanische Ideal, das sich leider mehr oder weniger ausbreiten wird.


SBL: Ihre große Hoffnung besteht also in der Angst und dem damit verbundenen Überlebenswillen der Menschheit?


G.: Ja, aber ich halte es nicht für unwahrscheinlich, wie ich schon sagte, dass irgendein Narr die Kontrolle um das Überleben auslöst. Es handelt sich hier ja um religiöse Welten. Völker ohne Religion gibt es gar nicht.


SBL: Ein unvergessener Satz von Ihnen bezog sich auf den TOD. Sie sagten einmal: Wer Angst vor dem Tod hat, kann nicht richtig denken. Haben Sie Angst vor dem Sterben?


G.: Angst in dem Sinne nicht. Aber man denkt mehr dran. Dazu kommt der Rückgang der Kräfte.


SBL: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tode?


G.: Nein! Aber ich kann verstehen, dass man daran glauben kann. Es hängt sehr davon ab, wie die Kindheit verläuft. Wenn man das Glück hat, dass ein Glaube in den ersten fünf Lebensjahren angelegt wird. Ich hatte das nicht. Das ist etwa so, wie kein Mann begreifen kann, was eine Mutter für ihr Kind empfindet, wie das Verhältnis von Mutter und Kind ist. Es gibt keine annähernde Möglichkeit, dies zu verstehen. So ist es auch mit dem Glauben. Dieser Glaube an Gott ist meines Erachtens Gnade.


SBL: Wäre es denkbar, dass unser Bewusstsein den Tod überlebt? Ein Hirnforscher und Nobelpreisträger sagte einmal „Unser Selbst steuert das Gehirn. Aus meinen eigenen Forschungen bezüglich des Zusammenhangs von Bewusstsein und Körper scheint es so zu sein, dass unser Bewusstsein oder ein Teil unseres Bewusstseins den physischen Tod überlebt. Die Sterbeforschung weist auch in diese Richtung. Halten Sie dies für möglich?


G: Plato hat in einem Dialog diesen Gedanken ebenfalls gehabt. Ein Mann war gestorben, aber dann doch noch nicht tot. Das gab es also auch damals schon. Das Bewusstsein war jedoch das Selbe, vorher und nachher. Da sind die Grenzen unseres Wissens mit jener Möglichkeit des Glaubens eng verkoppelt. Deswegen ist es ja so sehr wesenhaft, da wir ja alle an eine Grenze kommen. Die christliche Religion hat in Bezug auf den Tod meines Erachtens einen Vorrang in der Idee, dass jemand freiwillig für alle anderen Menschen stirbt, sozusagen sein Leben opfert. Das kann natürlich bei einigen Menschen zumindest die Zuversicht auf ein Leben nach dem Tod begründen. Das haben allerdings auch andere Religionen. Die schwierigste ist der Islam. Der Islam hat kein eigentliches Verhältnis zum Tode. Für Muslime ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie in einem späteren Leben für alles, was sie hier Gutes taten, belohnt werden. Im christlichen Kulturkreis könnte dieser unwahrscheinliche Grad von eigenem Können, von Wissen und Machen, auch Unheil zu bewirken (es ist doch alles furchtbar, was so ist), auch zu einer Regeneration führen. Es sind dies Grenzen des Wissens, die wir nicht überschreiten können. Ob sie jemand überschreiten kann, wissen wir nicht.

Was Gedächtnis ist, wissen wir doch auch nicht. Ich kann verstehen, was Vergessen ist oder was Opferbereitsein ist. Da kann ich viel verstehen. Aber das Gespräch Jesu am Kreuz, das die Bibel erzählt, wenn er zu dem Verbrecher sagt: Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ - Paradies hat er sicher nicht gesagt - dieses Gespräch geht über die Grenze hinaus. Ich sehe sehr genau, weshalb die Religionen überall eine Möglichkeit bieten, dass die Menschen sich in einer göttlich geleiteten Welt bewegen. Nur ist zu bedenken, dass sie dies aber nicht wirklich wissen und nicht wissen können. Es ist eine Frage, die sich mit überlegener Logik nur lächerlich macht. Wie jeder Philosoph hat man auch immer mit der Religion zu tun. Heidegger war auch sein Leben lang auf der Gottsuche.


SBL: Wie sieht Ihr Gottesbild heute aus? Wer oder was ist Ihr Gott oder der Schöpfer?


G: Ich kann hier nur die Grenze ehren. Ich wage auch gar nicht, etwas wissen zu wollen.


SBL: Würden Sie sagen, ich anerkenne ein höheres göttliches Wesen?


G: Jawohl, es ist alles möglich. Aber den menschlichen Gebrauch, den wir davon machen würden, müsste ich immer kritisch betrachten.


SBL: Glauben Sie an die Existenz einer jenseitigen Welt, Schutzengel z.B.?


G: Ich bin ganz unfähig, das zu tun. Ich kann nur sagen, ich verstehe sehr gut, welche Wünsche und Träume man aus der Bewunderung für das Leben und z.B. bei einem Naturforscher für die expandierenden Möglichkeiten im Universum reflektiert. Es geht immer um die Frage: wie weit kann man Wissen haben wollen. Wahrscheinlich gibt es nur das Lernen in den ersten Lebensjahren. In dieser Hinsicht waren meine Kinderjahre durch den frühen Tod meiner Mutter sehr düster. Mein Vater, Naturwissenschaftler und dem christlichen Dogma abgeneigt, meinte einmal, dass die Weisheit, die in diesen Welten sich vollzieht, einen Schöpfer haben müsse. Dies sei doch kaum zu vermeiden. Das sei doch alles kein Zufall. Ich weiß nicht, wie seine ersten Lebensjahre geprägt waren.


SBL: Wir Menschen können uns nicht vorstellen, dass etwas Sichtbares ohne Ursache sein könnte. Es ist die Frage nach dem Ursprung. Alle Völker und Kulturen haben ihre Vorstellungen vom Ursprung des Lebens.


G: Deshalb halte ich es auch nicht für sinnvoll, dagegen zu argumentieren und antworte nur, wie es für mich gilt. Für mich gilt, dass ich meine Grenze kenne.


SBL: Wie würde Ihre große Lebenserfahrung, in wenigen Sätzen zusammengefasst, lauten?

 

G: Man sollte sich über seine Grenzen klar sein, sich aber nicht darüber äußern. Man sollte sie schützen. Es ist eine Kleinigkeit, zu zeigen, wie alle Prozesse, die wir beobachten können, sich in einen Zusammenhang für lebendige Wesen fügen, und wie durch den Tod das dann plötzlich zu Ende ist. Hier kommen wir an eine Grenze. So sehe ich z.B. Grenzen in Bezug auf die Gentechnik. Dies ist ein Bekenntnis, kein Wissen, wenn ich sage, dass ich neues Wissen hier weder kritisieren kann, noch kenne. Das ist es doch, was man mit Philosophie verbindet, dass sie Grenzen aufzeigt. Stelle ich mir allerdings im Zusammenhang mit der Gentechnik den Kaufrausch vor, in dem dann auch Babies nach Belieben erworben und ausgesucht werden, erscheint mir das fürchterlich. Ich war befreundet mit einem bekannten Marburger Theologen, weil er keine mogelnden Aussagen zur Religion machte. Das ist doch das einzig Menschliche, was wir tun können. Wir haben kein Wissen über die Grenze hinaus. Und wenn das jemand behauptet, so betrügt er seine Mitmenschen.


SBL: Welche Botschaft würden Sie der Menschheit übermitteln, wenn sie denn zuhören würde?


G: Das weiß ich sehr genau! Ich würde sagen, sie müsste jetzt alles tun, um die großen Weltreligionen zur Ehrfurcht voreinander zu bewegen. Es besteht eine sehr große Nähe zum indologischen Bereich, zu Ostasien viel geringer.


SBL: Erhoffen Sie sich von der gegenseitigen Akzeptanz der Weltreligionen ein verbessertes Miteinander zum Schutz des Lebens?


G: Hoffnung gibt es nur, wenn die Bevölkerung, nicht die paar Beamten, dies erbringt. Denn das Dorf, die Kleinstadt ist letztendlich das, was überlebt.


SBL: Eine letzte Frage: Was ist Leben? Wie würden Sie mit Ihrer über einhundertjährigen Erfahrung "Leben definieren?


G: Das kann ich sehr klar beantworten:


Leben bedeutet, unterwegs sein zu seinen Grenzen. Und diejenigen, die dies nicht erkennen, machen das Leben so absolut unerträglich.


SBL: Herr Prof. Gadamer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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