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Albert Schweitzer


Albert Schweitzer

Vom Willen zum Leben

In meinem Willen zum Leben erlebt sich der universale Wille zum Leben anders als in den anderen Erscheinungen. In diesem tritt er in einer Individualisierung auf, die, soviel ich von außen bemerke, nur ein Sich-Selbst Ausleben, kein Eins werden mit anderem Willen zum Leben erstrebt. Die Welt ist das grausige Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben. Ein Dasein setzt sich auf Kosten des anderen durch, eines zerstört das andere. Ein Wille zum Leben ist nur wollend gegen den anderen, nicht wissend von ihm. In mir aber ist der Wille zum Leben wissend von andern Willen zum Leben geworden. Sehnen, zur Einheit mit sich selbst einzugehen, universal zu werden, ist in ihm. Warum erlebt sich der Wille zum Leben so nur in mir? Liegt es daran, dass ich die Fähigkeit erlangt habe, über die Gesamtheit des Seins denkend zu werden? Wohin führt die in mir begonnene Evolution? Ich kann nicht anders, als mich an die Tatsache halten, dass der Wille zum Leben in mir als Wille zum Leben auftritt, der mit andern Willen zum Leben eins werden will. Sie ist mir das Licht, das in der Finsternis scheint, die Unwissenheit, unter die die Welt getan ist, ist von mir genommen. Ich bin aus der Welt erlöst. In eine Ruhe, wie sie die Welt nicht mehr kennt, bin ich durch die Ehrfurcht vor dem Leben geworfen. Seligkeit, die die Welt nicht geben kann, empfange ich aus ihr. Wenn in der Sanftmut des Andersseins als die Welt ein anderer und ich uns in Verstehen und Verzeihen helfen, wo sonst Wille andern Willen quälen würde, ist die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufgehoben. Wenn ich ein Insekt aus dem Tümpel rette, so hat sich Leben an Leben hingegeben und die Selbstentzweiung des Lebens ist aufgehoben. Wo in irgendeiner Weise mein Leben sich an Leben hingibt, erlebt mein endlicher Wille zum Leben das Eins werden mit dem Unendlichen, in dem alles Leben eins ist. Labung wird mir zuteil, die mich vor dem Verschmachten in der Wüste des Lebens bewahrt.


Über den Stress

Die gewöhnliche Überbelastung des modernen Menschen in allen Gesellschaftskreisen hat zur Folge, dass das Geistige in ihm verkümmert. Nicht Bildung sucht er, sondern Unterhaltung, und zwar solche, die die geringsten geistigen Anforderungen stellt. Ohne uns über die Welt und unser Leben ins Klare kommen zu lassen, jagt uns der Geist unserer Zeit ins Wirken hinaus. Unablässig nimmt er uns für diese und jene Ziele und für diese und jene Errungenschaften in Anspruch. Er erhält uns im Tätigkeitstaumel, damit wir ja nicht zur Selbstbesinnung kommen und uns fragen, was dieses rastlose Hingeben an Ziele und Errungenschaften mit dem Sinn der Welt und dem Sinn unseres Lebens zu tun habe.


Seit zwei oder drei Generationen leben viele Individuen nur noch als Arbeitende und nicht mehr als Menschen.


Die Macht des Wahren

Alle Tatsachen sind Wirkung von geistiger Kraft, die erfolgreichen von Kraft, die stark genug ist, die erfolglosen von Kraft, die nicht genug ist...

Zum Beispiel: Mein Verhalten der Liebe richtet nichts aus - das kommt daher, weil noch nicht genügend Liebe in mir ist. Ich bin ohnmächtig gegen die Unwahrhaftigkeit und die Lüge um mich herum - dann bin ich eben selbst noch nicht wahrhaftig genug. Ich muss zusehen, wie Missgunst und Böswilligkeit ihr trauriges Spiel treiben - das heißt, dass ich selbst Kleinlichkeit und Neid noch nicht ganz abgelegt habe. Meine Friedfertigkeit wird missverstanden und verhöhnt. Das bedeutet, dass noch nicht genug Friedfertigkeit in mir ist.

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