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Erziehungsvorstellungen im Wandel

Begeisterter Schüler, der sich auf neue Abenteuer einlässt, zurück in die Schule,

Als ich vor über 40 Jahren zum ersten Mal als Lehrerin vor einer Klasse stand, waren meine Vorstellungen über den Umgang mit Kindern sehr stark von der antiautoritären Erziehung geprägt. Ich wollte meinen Schülern soviel Freiraum wie möglich geben. Sie sollten ihre kindliche Lebendigkeit nicht verlieren. Auf keinen Fall wollte ich als Lehrerin eine angsteinflößende Respektsperson sein, sondern Freundin und Kameradin der Kinder. Dann machte ich meine ersten Erfahrungen. Ich unterrichtete in einer 7. Klasse, Realschule. Dreißig pubertierende Kinder! Keiner von uns jungen Referendaren wollte in diese Klasse gehen. Es gab grauenvolle Situationen, in denen ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Eines Tages stürmte mein Schulleiter in die Klasse, weil er glaubte, es wäre kein Lehrer anwesend. So laut schrien die Schüler. Außerdem warfen sie Papierflieger nach draußen, die noch dazu an seinem Fenster vorbeisegelten, während ich versuchte, einer kleinen Gruppe Algebra beizubringen. Wie peinlich! Es war so laut, dass ich nicht einmal das Klopfen des Schulleiters hörte… Nach diesem Vorfall versuchte ich es mit der ganz strengen Methode. Hierbei fühlte ich mich aber auch nicht wohl. Schon sonntags fürchtete ich mich vor der Schule am nächsten Tag. Irgendetwas stimmte nicht! Aber was? Ich nahm an sehr vielen Lehrerfortbildungen teil. Im Laufe der Jahre erprobte ich verschiedene Methoden, um den Unterricht harmonischer und effektiver gestalten zu können. Wenn ich nicht untergehen wollte, musste ich die Angst vor Konflikten überwinden und Grenzen setzen. Zudem musste ich lernen, auch mich selbst ernstzunehmen. Und zwar mein Bedürfnis nach Ruhe und Harmonie in der Klasse, nach höflichem, gutem Umgangston untereinander, nach Wärme, Geborgenheit und Frieden. Wissensvermittlung um jeden Preis durfte nicht an erster Stelle stehen. Kinder brauchen einen geschützten Rahmen, in welchem sie wachsen und lernen können. Ist dieser nicht gegeben, leiden sie ihr Leben lang an den Folgen. Der Wechsel zu Schulen für Lernbehinderte oder Erziehungsschwierige ist dann oft unumgänglich. Es bedarf vieler verschiedener Berufszweige, um geschädigte Schüler aufzufangen: Erziehungsberater, Schulberater, Therapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter, Polizisten, Richter und Bewährungshelfer!

Konflikte und zerbrochene Beziehungen unter Geschwistern, Eltern, Kindern und Ehepaaren nehmen rapide zu. Die Hauptursache besteht darin, dass sie von Geburt an zu wenig Herzenswärme erfahren haben und ein frohes, konstruktives Miteinander nie erlernten. Warum streiten sich unsere Kinder überhaupt? Und wie können sie wieder zueinander finden? Was bedeuten achtsamer Umgang und gutes Benehmen für den Einzelnen? Diese Themen sollten auch im Unterricht behandelt werden, doch leider bleibt aufgrund der zu eng geschnittenen Lehrpläne und des zu hohen Leistungsdruckes hierfür kaum Zeit.

Bedingt durch einen Ortswechsel musste ich an einer Grundschule unterrichten. Hier bot der Lehrplan mehr Spielraum. Als ich jedoch zum ersten Mal ein erstes Schuljahr bekam, also Schulanfänger, verzweifelte ich. Der Krach, die ewigen Streitereien, der ständige Kampf um Anerkennung liebeshungriger Kinderseelen überrollten mich. Ich musste zu viel disziplinieren und hatte wenig Zeit für den tatsächlichen Unterricht. Wie konnte ich alldem gerecht werden?

Ich lernte schnell. Methodisch-didaktisch war ich nun fest im Sattel. Die gute Atmosphäre in meiner Klasse wurde noch besser. Ich konnte allen Situationen selbstsicher und gelassen begegnen. Wenn sich Kinder in der Pause gestritten hatten und wutentbrannt ins Klassenzimmer stürzten, setzten wir uns im Kreis zusammen, ließen die Betreffenden in Ruhe aussprechen, suchten nach Ursachen und entwickelten andere Verhaltensmöglichkeiten. Solche Gespräche fanden mehrmals täglich statt und erstreckten sich oft über eine ganze Unterrichtsstunde. Die charakterliche Verbesserung der Kinder war auffallend. Mehr noch, sie lernten auch viel schneller und besser.

Mir war wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, die optimales Lernen überhaupt erst ermöglichte. Kinder, die sich geärgert haben oder sich gekränkt fühlen, sind blockiert und können keine neuen Inhalte aufnehmen. So nutzte ich jede Gelegenheit, um Mitmenschlichkeit und gegenseitigen Respekt zu thematisieren. Z.B.: der freundliche Umgang untereinander - Dankbarkeit den uns selbstverständlich gewordenen Dingen gegenüber - die Freude, jemandem helfen zu können - die Gewissheit, wertvoll zu sein, auch wenn man Fehler machte - Spaß am Lernen zu haben - Selbstvertrauen zu gewinnen. In dem Maße, wie ich diese Werte mehr und mehr in den Vordergrund stellte, erhielt ich auch von den Eltern positive Rückmeldungen. Selbst die Verwandtschaft bemerkte, mit welcher Begeisterung die Kinder in die Schule gingen. Und dennoch, irgendetwas fehlte. Ich war noch nicht zufrieden. So ließ ich mich beurlauben und ging auf die Suche. Der Abschied von meiner Klasse fiel mir sehr, sehr schwer. Rückblickend auf meine zwanzigjährige Tätigkeit war mir hier die bisher beste Mischung zwischen Erziehung in ethischen Werten einerseits und solider Wissensvermittlung andererseits gelungen.

Ich bat um Führung. Schon bald öffneten sich Türen, von denen ich nicht wusste, dass es sie überhaupt gab. Auf einer Studienreise lernte ich in den USA zufällig eine sogenannte „Erziehung für’s Leben“ – Schule kennen und traute meinen Augen nicht. Dort wurde nicht nur alles praktiziert, was auch ich versucht hatte, sondern noch viel mehr. Ich sah meine Träume verwirklicht: Neben einer ausgezeichneten akademischen Wissensvermittlung stand gleichrangig die Erziehung in ethischen Werten auf dem Lehrplan!

Wie wurde das in der Praxis gelebt? Ich war neugierig. Eine ganze Woche lang nahm ich in den verschiedenen Klassen am Unterricht teil. Mein erster Eindruck bestätigte sich. Das Sozialverhalten unter den Schülern war vorbildlich. Keine Streitereien, kein scharfes Wort! Es gab ausnahmslos aufbauende Dialoge zwischen Lehrern und Schülern. Was machte diese Schulen so anders? Warum wurden ihre Leiter zu Fortbildungslehrgängen in alle Welt gebeten?

Ich wollte es genauer wissen und fand folgendes heraus:

  1. Es handelte sich bei diesem Modell um eine der vielen Privatschulen, die ihre eigenen Lehrpläne aufstellen konnten.

  2. Das Curriculum beinhaltete sowohl die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten als auch die Schulung von Willenskraft und Konzentrationsfähigkeit, Mitgefühl, Brüderlichkeit und Hilfsbereitschaft.

  3. Ethische Werte standen nicht nur auf dem Papier, sondern wurden jeden Tag in erstaunlicher Vielfalt thematisiert und gelebt. Sie waren im Glauben an einen alle Geschöpfe liebenden Gott als Vater begründet.

  4. Die Lehrer unterrichteten zu zweit in einer Klasse (18-24 Schüler). Sie wurden von den Eltern bezahlt. Ihre Ideale und ihr Bildungsniveau waren sehr hoch.

Anfangs war ich etwas befangen, als ich beobachtete, wie unbekümmert die Kinder ihre tiefsinnigen und gehaltvollen Lieder sangen und überall in den Räumen Worte wie Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Kameradschaft, Herzlichkeit, Mut etc. als Wochenmotto auf der Wandtafel geschrieben standen. Ich fürchtete eine eventuell zu starke Religiosität, die Einengung und Weltfremdheit zur Folge haben könnte. Dies war jedoch keineswegs der Fall. Die fröhlichen, dynamischen und doch in sich ruhenden Kinder, die in natürlicher Herzlichkeit miteinander umgingen, die viel lachten, ohne albern oder affektiert zu sein, sprachen für sich. Auch die Lehrer waren in keiner Weise hausbacken oder verklemmt. Weltoffen, großherzig, fröhlich und blitzgescheit ließen sie mich an allem teilhaben und beantworteten geduldig meine vielen Fragen.

Aufgrund dieser Studien erkannte ich, was bisher in meinem Unterricht fehlte. Ich hatte versäumt, ihnen das Kostbarste zu vermitteln, nämlich die Anbindung an eine universelle, überkonfessionelle Schöpferkraft. Ich hatte versäumt, ihnen etwas an die Hand zu geben, worauf sie sich in allen Lebenslagen verlassen konnten.

Gerade heute ist es notwendiger denn je, junge Menschen zu stabilisieren. Wir sollten versuchen, sie auf der Grundlage humanistischer oder christlicher Werte zu intelligenten, aufrechten, frohen und friedliebenden Bürgern zu erziehen, denn nur innerlich ausgehungerte Menschen entwickeln Gefühle von Habgier, Minderwertigkeit, Angst, Sinnlosigkeit, Egoismus usw. Wer innerlich erfüllt und harmonisch ist, der muss dem Anderen nichts wegnehmen. Wenn wir junge Menschen zu gegenseitiger Wertschätzung und höflichem Umgang untereinander anhalten, werden viele soziale Konflikte bereits im Ansatz vermieden.

Hier können kleine, überschaubare Privatschulen Abhilfe schaffen. Kinder sind unsere Zukunft und wir sollten nur das Beste in sie investieren. Wir brauchen Schulen, die auf das Leben vorbereiten und nicht nur auf den Beruf. Wir brauchen Lehrer, denen die Vermittlung fundierten Wissens und selbständigen Lernens sowie die Charakterbildung ihrer Schüler am Herzen liegen. In unserer christlichen Tradition haben wir diesbezüglich gute Vorbilder, z.B. Adolf Kolping, oder Albert Schweitzer, die die Ehrfurcht vor dem Leben und die Nächstenliebe nicht nur predigten, sondern auch vorlebten!

Ich möchte unseren Kindern helfen, sich nach den obigen Grundsätzen zu entwickeln. Ich möchte meine Kollegen ermutigen, die Freude am Unterrichten nicht zu verlieren und den Eltern ans Herz legen, auf das Seelenheil ihrer Kinder genau so viel Wert zu legen wie auf eine erstklassige umfassende Wissensvermittlung. So wünsche ich uns allen,

  • dass Kinder sich wieder auf Schule freuen können,

  • mit strahlenden Augen lernen und ein optimales Fundament für weiterführende Schulen erhalten,

  • in der Klassengemeinschaft glücklich sind,

  • dass Eltern sich Zeit für ihre Kinder nehmen,

  • bei dem Wort Schule Freude empfinden können,

  • den Mut aufbringen, ihre Kinder weitmöglichst von schädlichen Einflüssen für Geist und Seele fernzuhalten und sich für eine hochqualifizierte Bildung einsetzen,

  • dass Lehrer sich in der Schule wieder wohlfühlen und in einer guten Atmosphäre beste pädagogische Arbeit leisten können.

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